top of page

Parkour: Kunst oder Sport?

Ist Parkour Sport oder Kunst?

Das ist eine Debatte, die immer mal wieder hier und da aufkommt. Meistens ist es allerdings keine wirkliche Debatte, sondern vielmehr eine Aussage – die bekräftigt, dass Parkour entweder das eine oder das andere oder beides sei. Aber jede Diskussion über Sport oder Kunst ist ziemlich bedeutungslos, wenn man diese Begriffe nicht definiert. Es sei denn natürlich, deren Bedeutung wäre offensichtlich und allgemein anerkannt… was sie vermutlich nicht sind.

Deshalb möchte ich hier genau das tun: definieren. Um das zu tun, möchte ich verschiedene Aspekte von Sport und Kunst betrachten, um ein umfassenderes Verständnis davon zu gewinnen, was diese Wörter bedeuten.


1. Struktur

Ich möchte mit der Struktur von Sport und Kunst beginnen, und zwar mit dem Sport, da dieser leichter zu beschreiben ist.


Struktur des Sports:

  1. Sport hat feste Regeln und feste Ziele (also im Grunde ein Spiel),

  2. anhand derer man die Teilnehmenden vergleichen kann, und

  3. dadurch ein Ranking erstellen und den oder die Besten bestimmen kann.

Wohingegen buchstäblich alle Sportarten so aufgebaut sind, ist es bei der Kunst nicht so einfach. Es scheint eine Vielzahl von Dingen zu geben, die unter den Begriff „Kunst“ fallen. Und diese sind oft so dramatisch unterschiedlich, dass wir zunächst anerkennen müssen, dass Kunst kein so homogenes Feld ist wie der Sport. Wenn wir die Struktur dessen betrachten, was wir klassischerweise als Kunst ansehen (z. B. Musik, Malerei, Architektur), sehen wir, dass keiner der Punkte der Sportstruktur dort eindeutig vorhanden ist. Daher möchte ich die Struktur von Kunst zunächst negativ definieren:


Struktur der Kunst:

  1. keine festen Regeln oder Ziele (außer jene, die das Handwerk erfordert, z. B. Farblehre in der Malerei oder physikalische Gesetze des Klangs in der Musik),

  2. deshalb keine klare Vergleichbarkeit und auch keine „Teilnehmenden“ im klassischen Sinne,

  3. und daher kein objektives Ranking. (Natürlich gibt es Meinungen darüber, wer oder was „der/die Größte“ ist, aber keinen Schiedsrichter, der das bestätigt.)

Schon beim Vergleich der Strukturen wird klar, dass wir es hier mit sehr unterschiedlichen Dingen zu tun haben. Kunst fehlt das feste Gerüst, das Sport besitzt – und genau dieser Mangel an Struktur führt zu einem weiteren großen Unterschied: den unterschiedlichen Dynamiken.


2. Dynamik

Sobald eine Sportart offiziell geworden ist – mit Regeln, Zielen und einem Messsystem – kann sich jede weitere Entwicklung nur innerhalb dieser Grenzen abspielen. Die Leistungsfähigkeit innerhalb dieses Rahmens kann sich stark weiterentwickeln, aber es gibt keine fundamentalen Brüche, keine radikalen Richtungswechsel, keine „Gestaltwechsel“, wie sie in der Kunst üblich sind.

In der Kunst sind solche Brüche nicht nur möglich, sondern häufig. Zum Beispiel: Im 19. Jahrhundert bestand die Malerei vor allem darin, die sichtbare Welt möglichst realistisch abzubilden. Irgendwann entstand die abstrakte Malerei, die sich nicht mehr auf die sichtbare Welt bezog. Das war ein sehr fundamentaler Wandel im Wesen der Malerei. Ein dramatischer Wechsel auf grundlegender Ebene.

Sport hingegen bleibt im Wesentlichen gleich – er nähert sich nur seinen physikalischen Grenzen. Das macht die zukünftige Entwicklung einer Sportart ziemlich vorhersehbar. Das sieht man in allen offiziellen Sportarten wie Turnen, Fußball, Tennis usw. Vielleicht denkt man, sie hätten sich stark verändert – aber das ist nicht auf fundamentaler Ebene geschehen. Sie waren vor 50 Jahren prinzipiell dieselben, nur noch nicht so ausgemaxt.

Die Kunst dagegen entwickelt sich ständig weiter und diversifiziert sich in zahlreiche Stilrichtungen und Genres. Und selbst innerhalb dieser Strömungen gibt es große Unterschiede in Form und Inhalt.

Eine solche Entfaltung erfordert natürlich die Freiheit von festen Strukturen – auch wenn sie nicht allein dadurch verursacht wird. Die Freiheit ermöglicht es Individuen, jede Richtung zu erkunden, der sie sich hingezogen fühlen. Doch es braucht eben auch das Individuum mit dem inneren Antrieb. Ohne einen kreativen Impuls wird niemand neue Wege einschlagen – selbst wenn die Strukturen frei sind. Menschen mit einem kreativen Impuls tendieren eher zu freien Disziplinen als zu regulierten. Deshalb befürchte ich auch nicht, dass „Competition-Parkour“ (also Wettkampf-Parkour) in Zukunft die einzige Form sein wird – denn Sport kann den kreativen Ausdrucksdrang nicht vollständig befriedigen. Es wird immer etwas außerhalb des Sports geben.


Zusammengefasst:

  • Kunst entwickelt sich ständig weiter und differenziert sich aus.

  • Sport entwickelt sich nicht weiter, sondern nähert sich den Grenzen innerhalb seines Rahmens.


→ Frage: Es gibt heute mehr Sportarten als vor 100 Jahren – entwickeln sich Sportarten also nicht doch weiter?

Nun, nein. Wahrscheinlich haben alle Sportarten einmal informell begonnen. Jedes Mal, wenn sich etwas von einer etablierten Sportart abspaltet oder unabhängig davon entwickelt, wird schnell versucht, einen Rahmen darum zu ziehen und es offiziell zu machen. Sobald das gelungen ist, hört die Evolution auf.

Freestyle-Ski ist ein wunderbares Beispiel. Es war ursprünglich eine ganz neue Form des Skifahrens – mit viel Potenzial, das Universum des „Skispringens“ zu erkunden. Aber sehr schnell wurde es offiziell organisiert. Seitdem ist dort nicht mehr viel passiert – außer ein paar zusätzlichen Drehungen. Die physischen Grenzen wurden innerhalb eines engen Rahmens erreicht.

Außerhalb des Sports „Freestyle-Ski“ aber ging die Entwicklung ungehindert weiter – mit der typischen Vielfalt unorganisierter Bewegungen.

Die Vervielfältigung von Sportarten ist also kein innerer Mechanismus des Sports, sondern das Ergebnis von Abspaltungen – weg von einem Regelwerk, um dann wieder in ein neues Regelwerk zu erstarren. Und dafür braucht es dann wieder eine Loslösung, damit es sich erneut entwickeln kann.

Romantisch formuliert: Es ist wie ein Fluss, der durch einen Damm blockiert wird, aber sich irgendwann seinen Weg um ihn herum bahnt.

Der kreative, erforschende Drang in der Menschheit findet seinen Weg.

Das zeigt: „Stauen“ und „Fließen“ sind zwei Effekte mit verschiedenen Ursachen. Kunst und Sport funktionieren unterschiedlich. Und das liegt vermutlich daran, dass sie zwei verschiedene Zwecke erfüllen.


3. Zweck / Funktion

Um zu verstehen, welchen Zweck Kunst und Sport erfüllen, schauen wir uns an, worum es ihnen hauptsächlich geht:


Zweck der Kunst

Bei der Kunst geht es häufig um die Verwirklichung einer Idee im Inneren des Künstlers. Nicht nur Ideen – auch Gefühle, Visionen, Konzepte – all das Unsichtbare, das Innere, die subjektive Erfahrung. Oder einfach: das Innere.

Das Innere des Künstlers bestimmt wesentlich die äußere Form des Werks. In der Musik wird das besonders deutlich: Musik ist oft ein Ausdruck des Musikers. Ein Lied klingt unterschiedlich, je nachdem, was beim Komponieren in ihm vorging.

Dasselbe gilt für die meisten künstlerischen Tätigkeiten: Der Maler hat keine Regeln, was er malen soll. Die Wahl von Farben, Formen und Motiven ist Ausdruck seiner Vorlieben und Empfindungen. Generell folgt die Richtung der Kunst also diesem Muster: Innen → Außen

Man könnte Kunst so definieren:

Kunst ist die Vergegenständlichung von etwas Subjektivem.

oder einfacher: Ausdruck

Also, ist Parkour Kunst? Solange die subjektive Erfahrung der Hauptmotor bei der Bewegung ist, ist Parkour künstlerisch. Aber natürlich ist das nicht immer der Fall. Die Form von Parkour entsteht nicht ausschließlich aus dem Inneren – es gibt viele äußere Einflüsse. Dazu später mehr.

Parkour ist abstrakt, hat keine „wörtliche“ Bedeutung – wie abstrakte Kunst. Das macht es schwerer, es als „Ausdruck“ zu erkennen. Dieses Thema werde ich in einem weiteren Artikel behandeln.


Zweck des Sports

Im Sport spielt das Innere des Athleten eine viel kleinere Rolle. Natürlich gibt es eine mentale Seite, aber nicht im Sinne des Ausdrucks. Die Form der sportlichen Handlung ist (je nach Regeln) vordefiniert und weitgehend unabhängig von der inneren Verfassung des Athleten.

Ein Sprinter muss 100 m sprinten – egal ob traurig oder glücklich. Er kann sich nicht entscheiden, die Kurve zu laufen oder rückwärts. :D

Ein riesiger Unterschied zur Kunst. Also, worum geht es im Sport?

Natürlich hat Sport viele Zwecke – Gesundheit, soziale Kontakte usw. Aber der Hauptzweck, auf den ich mich hier konzentrieren möchte, ist:

Wettkampf und Messbarkeit

Warum? Weil es keinen Sport ohne Wettkampf und Messung gibt. Sie sind das Rückgrat des Sports.

Wettkampf bringt die Notwendigkeit mit sich, ein Messsystem einzuführen. Ohne das gäbe es keinen Vergleich, kein Ranking.

Und genau darum geht es: Objektive Bewertung von Leistung.

Auch wenn man „nur zum Spaß“ Sport macht, ist das Zählen, Messen und Setzen von Zielen oft ein elementarer Bestandteil.

Meine Vermutung:Es geht nicht um die Ziele selbst – sondern um das Gefühl, sich in Richtung eines Ziels zu bewegen. Fortschritt, Produktivität, Erfolg – messbar gemacht durch Zahlen.

Ob Fitness, Instagram-Follower, Höhenmeter oder Pokémon-Karten: Wachsende Zahlen geben das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.

Der Sport braucht diese klaren Messwerte – auch wenn manche Tätigkeiten sich schwer objektiv messen lassen. Er ist geradezu „blind auf zwei Augen“, um Objektivität zu erzeugen – und alle machen mit, damit das Spiel weitergehen kann.

Daher drehen sich Sportarten meist um Zählbares: schneller, höher, weiter, mehr, weniger usw.

Ein weiteres Kernelement ist das Ranking – eine Art sozialer Orientierung: „Wo stehe ich im Vergleich zu anderen?“ Auch das ist ein Riesenthema für sich, das ich in einem weiteren Artikel behandeln möchte.


Direkter und indirekter Ausdruck

Aber ist Sport nicht auch ein Ausdruck menschlicher Natur?

Wenn man darüber nachdenkt, ist jede menschliche Aktivität in gewisser Weise ein Ausdruck. Sport ist Ausdruck von inneren Gefühlen – etwa dem Wettkampfgefühlen. In diesem Sinne wäre Sport auch Kunst: Etwas Subjektives formt etwas Objektives. Aber es gibt einen Unterschied: Direkter Ausdruck vs. indirekter Ausdruck

Ein direkter Ausdruck folgt aus einem Willen zum Ausdruck oder einem kreativen Impuls.Ein Künstler hat den Drang, etwas Inneres sichtbar zu machen – und verwendet ein Instrument (Musik, Bewegung, Pinsel), um das zu tun.

Ein Musiker z. B. möchte Melancholie ausdrücken – er ist erst zufrieden, wenn der Klang seiner Musik das innere Gefühl angemessen widerspiegelt.

Im Gegensatz dazu hat ein Sprinter nicht den Wunsch, seine Wettkampfgefühle durch Sprinten auszudrücken – aber sein Handeln zeigt dennoch, dass sie da sind. Das ist indirekter Ausdruck.

Ein Künstler würde das Thema „Wettkampf“ z. B. in einem Song behandeln (wie oft im Hip-Hop), nicht durch Teilnahme an einem Rennen.


Künstlerisches Handeln ist also:

Der indirekte Ausdruck eines Ausdruckswillens,und das resultierende Werk ist der direkte Ausdruck der Erfahrung.


Fazit

Zurück zur Anfangsfrage: Ist Parkour Sport oder Kunst?

Die Antwort ist: Es hängt davon ab, wie eine Person Parkour ausübt.

  • Ist es hauptsächlich Ausdruck innerer Impulse → Kunst.

  • Geht es um Leistung, Ziele, Vergleich → Sport.

In Wahrheit ist es oft eine Mischform.


Parkour ist heute noch sehr frei – das zieht eher künstlerisch veranlagte Menschen an. Die Freiheit wäre für rein sportlich denkende Menschen eher eine Last. Sie wären froh über klare Ziele.

Meine Einschätzung: Die meisten Parkour-Praktizierenden sind eher „Cappuccino“ als „schwarzer Kaffee“ – also eine Mischung.

Natürlich gibt es Menschen an den Extremen des Spektrums. Und dann gibt es viele Einflüsse, die Bewegung formen:

  • Ideologische Einflüsse („keine Flips machen“ war früher fast Gesetz),

  • Gruppendynamik („meine Freunde machen es auch“),

  • oder reine Gewohnheit („so wird Parkour halt gemacht“).

  • Für manche ist Bewegung einfach ein Nebenschauplatz – wie das Essen, wenn man mit Freunden essen geht.


 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
Difficulty im Parkour

Oft geht es beim Parkour einfach darum, etwas Schwieriges zu machen. Viele Sprünge wären überhaupt nicht interessant, wenn sie nicht...

 
 
 
Freestyle-Methodik des Lernens

Warum Freestyle-Sportarten die perfekten Lehrer sind, um dir beizubringen, wie man Dinge effizient lernt. Oft hört man die Frage: Wie...

 
 
 

1 Kommentar


Gast
03. Okt.

Vielen Dank für diesen außergewöhnlich gut geschriebenen Beitrag. Die Tiefe der Information und die klare Struktur sind erstklassig. Er hat meine Neugier geweckt und mich dazu inspiriert, meine eigene visuelle Vorstellungskraft testen zu wollen. Es ist gar nicht so einfach, dafür eine verlässliche Methode zu finden. Glücklicherweise bin ich auf eine Webseite gestoßen, die einen einfachen und doch effektiven Test anbietet. Es war eine wirklich spannende Erfahrung, die ich jedem empfehlen kann, der sich für die Funktionsweise unseres Gehirns interessiert.

Gefällt mir

JAM UPDATES  &
MATTTMA NEWS

Anmeldung erfolgreich.

AGB
Datenschutzerklärung
Impressum

© 2025 by Eckert & Mayer GbR.
Alle Rechte vorbehalten.

bottom of page