Freestyle-Methodik des Lernens
- Matthias Mayer
- 28. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Aug.
Warum Freestyle-Sportarten die perfekten Lehrer sind, um dir beizubringen, wie man Dinge effizient lernt.
Oft hört man die Frage: Wie kann ich Parkour am schnellsten lernen? Und das ist eine große Frage, denn Parkour hat viele, viele Aspekte. Aber für den Moment schauen wir uns mal nur den koordinativen Teil an – also den „Moves lernen“-Teil.
Ein häufiger Fehler
Wenn es um Geschwindigkeit beim Lernen geht, gibt es definitiv bessere oder schlechtere Arten zu trainieren. Und ein häufiger Fehler ist, einen Move nach dem anderen zu lernen – also erst eine Technik zu perfektionieren, bevor man zur nächsten übergeht. Das wirkt zwar irgendwie logisch, aber das ist halt einfach nicht, wie wir lernen. Um einen Lernprozess allgemein zu veranschaulichen, nehme ich mal ein Beispiel aus der Mathematik, weil ich denke, dass das sehr klar macht, worum es geht:
Beispiel 1:
Sagen wir, du willst Addition lernen. Dafür reicht es nicht, einfach 2 + 2 = 4 immer wieder zu rechnen. Selbst wenn du das 1000 Mal machst, wirst du Addition nicht verstehen. Stattdessen musst du dir verschiedene Beispiele von Addition anschauen. Und dadurch erkennst du dann die gemeinsame Regel hinter allen – das Prinzip der Addition. Und genau das willst du. Denn mit diesem Prinzip kannst du jede Addition rechnen.
Beispiel 2:
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Angenommen, ich zeige dir diese drei Bilder und frage dich, was der gemeinsame Nenner ist?

Du könntest es mir nicht sagen, weil sie alle gleich sind. Identisch.
Aber wenn ich dir diese drei Bilder zeigen würde und frage, was der gemeinsame Nenner ist?

Dann ist es ziemlich leicht zu erkennen, da manches verschieden ist, und manches nicht.
Wie übersetzt sich das auf Bewegung?
Das klingt sehr theoretisch. Also wie übersetzt sich das jetzt auf Bewegung? Es ist ziemlich genau dasselbe. Wenn du einen Trick lernen willst, solltest du nicht den Trick lernen wollen, sondern das Prinzip hinter dem Trick, das den Trick ausmacht. Im Übrigen ist ein Trick ja nur ein Wort für eine Reihe von Bewegungen die zusammengesetzt werden – und dieses Bewegungspaket benennen wir dann irgendwie. Aber jedem Trick liegt ein oder mehrere Kern-Prinzipien zugrunde, ohne denen er gar nicht funktionieren würde, und dann gibt es Bewegungen die eigentlich gar nicht essentiell sind für einen Trick.
Ein Movement Beispiel
Schauen wir uns zum Beispiel einen getuckten Rückwärtssalto an. Es gibt vielleicht 1000 Varianten eines getuckten Rückwärtssaltos, aber das Prinzip dahinter ist bei allen exakt dasselbe. Du musst nicht unbedingt deine Beine festhalten beim Tuck, es reicht wenn du dich einfach kleiner machst in der Luft, denn das Rotationsprinzip interessiert nicht die exakte Platzierung deiner Hände.
Und genau das ist das Ding – das ist der Kern des Backflips, den du dir aneignen willst. Und um zu diesem Kern zu kommen, musst du dir verschiedene Variationen anschauen, damit du den gemeinsamen Nenner erkennst – genau wie im Mathematikbeispiel.
Verschiedene Variationen desselben Moves zu machen ist ein bisschen so, als würdest du einen 3D-Scan vom Prinzip dahinter machen. Stell dir vor, du schaust dir ein Objekt an. Wenn du immer nur aus derselben statischen Perspektive guckst, siehst du nur eine Seite davon. Aber wenn du dich frei drumherum bewegst, bekommst du ein umfassenderes Verständnis dieses Dings. Und genau das wollen wir auch mit Bewegung.
Was passiert also, wenn du den Backflip immer im exakt gleichen Setting und in exakt der gleichen Variation trainierst, immer wieder und wieder? Nun, das ist ein bisschen wie immer nur aus der gleichen Perspektive auf ein Objekt zu schauen – oder wie im oberen Beispiel - sich identische Bilder anzuschauen. Was du da machst: Du speicherst dir einen statischen Bewegungsblock ab, genannt „Backflip“, und du kannst innerhalb dieses Blocks keine Unterschiede erkennen, weil du den Kern nicht verstanden hast. Und das ist ein Problem, denn dann hast du nur diesen einen Bewegungsblock namens „Backflip“ und kannst ihn abspielen – aber du kannst nicht innerhalb des Blocks rumspielen. Wenn du aber den Kern verstanden hast – die involvierten Prinzipien – kannst du anfangen, mit dem Move zu spielen, denn jetzt gibt es innerhalb dieses Blocks ein Kernprinzip und darum herum die weniger wichtigen Details. Es ist jetzt kein toter Block mehr, sondern eine flexible, differenzierte Einheit. Was du für einen Trick benötigst ist das, ohne dem der Trick nicht mehr funktioniert. Alles andere sind Details. Deshalb werden Moves auch physisch immer leichter, denn je mehr man die Essenz eines Moves begriffen hat, desto weniger verschwendest du Energie, sondern steckst sie präzise nur dort rein, wo sie benötigt wird.
Variation im Training
Anstatt also statisch an neue Bewegungen heranzugehen, solltest du direkt von Anfang an Variation ins Training bringen. Zum Beispiel solltest du nicht einfach nur mit dem B-twist starten. Du kannst direkt B-twist-Varianten machen: Landung auf einem Fuß, auf zwei Füßen, mit mehr oder weniger Drop, ein bisschen zur Seite, nach vorne, mit Distanz, auf der Stelle, Absprung mit zwei Beinen, mit einem Bein. Probier all diese Varianten aus – und vielleicht reicht das noch nicht mal. Du kannst vielleicht gleichzeitig mit Cork und Backfull anfangen, je nachdem, wie viel du generell trainierst. Und das wirkt vielleicht erstmal überwältigend, weil du auf einmal zehn Baustellen gleichzeitig hast, anstatt eine nach der anderen. Aber eigentlich hast du nur eine einzige Baustelle, wenn du bedenkst, dass alle zehn Moves dasselbe Bewegungsprinzip beinhalten. Und das Gute daran: Während du an zehn „verschiedenen“ Dingen gleichzeitig arbeitest, verbessert jeder Move im Grunde alle anderen mit, weil sie alle das gleiche Problem beinhalten.
Natürlich kannst du nicht bei allen Techniken direkt mit Variationen starten – manchmal ist schon eine einzige Variante schwer genug (castgainer zum Beispiel). Aber es gibt viele Tricks, die völlig ungefährlich sind, und mit denen du direkt anfangen kannst zu experimentieren.
Methodik des Freestyle
Das klingt jetzt vielleicht theoretisch – und klar, es ist Parkour-Theorie, also eine Theorie und ich kann sie also nicht wirklich beweisen – aber ich glaube, genau diese Art von Training sehen wir bei Athleten, die ein besonders breites Bewegungsverständnis haben und scheinbar jeden Trick können. Wenn du dir alte Videos von Pasha oder Shade anschaust – genau das wirst du sehen. Sie finden ein „Ding“ (ein Bewegungsprinzip) und probieren dann in derselben Session alle möglichen Varianten davon aus. Und auch heute sieht man das bei besonders vielseitigen Athleten: Es wirkt, als würden sie Phasen durchlaufen – sie finden ein neues Bewegungsprinzip und dann experimentieren sie die nächsten Wochen mit allen möglichen Variationen. Wahrscheinlich machen sie das unbewusst – aber das ändert nichts daran, dass sie genau so trainieren.
Und auf eine gewisse Weise zwingt dich Freestyle sogar dazu, genau so zu trainieren, denn im Freestyle hast du immer wieder neue Spots – und dadurch machst du automatisch leicht unterschiedliche Versionen desselben Tricks, weil kein Spot wie der andere ist. Und dadurch bekommst du ein immer präziseres Verständnis für die involvierten Prinzipien – ohne dass du es überhaupt bewusst merkst. Und ich denke, nirgendwo sonst findest du Athleten mit so viel Tiefe an Bewegungsverständnis und so hoher Anpassungsfähigkeit an neue Umstände wie in Freestyle-Disziplinen. Es ist irgendwie ein Wunder, dass du einen Sprung perfekt machen kannst, den du in genau dieser spezifischen Konstellation noch nie gemacht hast.
Zusammenfassung
Zusammenfassend:
Wir wollen keine Moves auswendig lernen – wir wollen Bewegungsprinzipien verstehen. Und dafür brauchen wir Kontraste: verschiedene Beispiele, die dasselbe Prinzip enthalten. Und durch den Kontrast dieser Unterschiede sind wir in der Lage, das zu erkennen, was in allen gleich ist – das Prinzip.
Und das gilt nicht nur für Parkour oder Freestyle-Sportarten im Allgemeinen – ich bin überzeugt, das gilt für jedes beliebige Feld.
Ein letztes Beispiel:
Angenommen, du redest mit jemandem, der dich von etwas überzeugen will, aber nicht sagen kann, wie er zu seiner Meinung kam, oder der sich nicht frei auf deine Fragen eingehen kann oder das Thema nicht in deine „Sprache“ übersetzen kann – ist das nicht einfach ein Zeichen dafür, dass er das Thema selbst nie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet hat und den Kern nie wirklich verstanden hat – und deshalb auch nicht flexibel über sein Thema sprechen kann, sondern sich auf statische Sätze stützen muss, die er zwar auswendig kennt, aber nie wirklich verstanden hat.

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