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Das mental game / bedroht von zwei Seiten

Intro

Fast alle Freestyle-Sportarten beinhalten ein Element von hohem Risiko, und es scheint kein Zufall zu sein, sondern gerade die Gefahr ist oft der Grund, warum Menschen bestimmte Sprünge oder Herausforderungen machen. Die Öffentlichkeit wird oft mit solchen Clips konfrontiert, und die typische Reaktion ist Unverständnis – was man in den Kommentarspalten viraler Parkour-Videos gut sehen kann. Die Leute fragen sich, warum man freiwillig Gesundheit oder sogar sein Leben für so etwas Unnötiges wie einen Sprung riskieren würde. Und das ist eine berechtigte Frage, denn das übliche und vermutlich vernünftige Motiv ist es, genau diese Dinge zu bewahren – und daher wird solches Verhalten als abnorm oder dysfunktional betrachtet.

Keine Notwendigkeit zur Erklärung

Ich möchte das ein wenig erklären, in der Hoffnung, dass auch jene Menschen dieses Video sehen (oder diesen Artikel lesen – was unwahrscheinlich ist … aber du kannst ihn ja deinem Onkel schicken :)

Zunächst einmal denke ich nicht, dass sich Parkour-Menschen rechtfertigen müssen, wenn gleichzeitig Menschen zum Mond oder Mars fliegen oder was auch immer. Es scheint etwas zu geben, das Menschen dazu bringt, ständig Grenzen überschreiten zu wollen. Vielleicht ist das Problem, dass Menschen sich mehr vorstellen können, als sie tatsächlich umsetzen können – und das lässt sie irgendwie gefangen fühlen. Wie dem auch sei: Wenn man sich die Menschheit als Ganzes anschaut, wirkt „Grenzen überschreiten“ nicht wirklich abnormal. Es scheint eher der Normalzustand zu sein.

Abgesehen davon, dass ich also nicht denke, dass Parkour-Leute ihr Verhalten vor der Öffentlichkeit rechtfertigen müssen, ist die Frage nach dem „Warum“ trotzdem interessant – und es schadet sicher nicht, wenn man sich diese hin und wieder selbst stellt.

Noble Motive?

Wenn wir nach dem „Warum“ fragen, erhalten wir von verschiedenen Personen unterschiedliche Antworten. Wenn man Parkour-Menschen oder andere „Extrem“-Sportler fragen würde, nennen sie einem vermutlich allerlei noble Gründe, warum sie riskante Dinge tun. Während Außenstehende eher weniger noble Motive vermuten: Ruhm, Aufmerksamkeit, Likes, Bewunderung und so weiter. Und es stimmt, dass diese „niederen Motive“ sicher ein Anreiz sind – und es stimmt auch, dass im Parkour extrem schwierige und gefährliche Sprünge bis zu einem gewissen Grad auch Anerkennung erhalten. In der Parkour-Community werden Leute respektiert, die „verrückte“ Sachen gemacht haben.

Man muss jedoch auch Folgendes bedenken: Bevor man überhaupt etwas machen kann, das Aufmerksamkeit auf sich zieht, muss man Jahre und Jahre und Jahre trainieren. Man kann nicht einfach beschließen: „Oh, ich will ein paar Likes – ich spring jetzt einfach von dem Dach.“ Hinter diesen verrückten Sprüngen steckt fast immer eine leidenschaftliche Person, die Tausende von Trainingsstunden in ihren Sport investiert hat, bevor sie überhaupt ein Niveau erreicht hat, das für andere interessant wird.

Das heißt nicht, dass Parkour-Leute nie dumme Dinge aus dummen Gründen tun – aber zumindest haben sie in der Regel nicht so angefangen. Meistens war es nicht die ursprüngliche Motivation, diesen Sport zu erlernen.


Adrenalin?

Wäre es nur der sogenannte „Kick“, dann könnte man auch weniger anspruchsvolle Dinge tun, zum Beispiel einfach blind über die Straße laufen, oder kurz die Hände vom Lenkrad nehmen oder sowas. Es gäbe unendlich viele Möglichkeiten sich einen Adrenalin-shot zu verpassen. Aber das ist es eben nicht. Wenn kein Skill involviert ist, dann ist es uninteressant.


Das mental game

Um das „Warum“ hinter diesem ganzen Phänomen besser zu verstehen, müssen wir uns den Prozess hinter diesen „verrückten Sprüngen“ anschauen. Im Parkour nennen wir den angsteinflößenden Teil davon das mental game. Dieses mental game beginnt an dem Punkt, an dem du etwas tun willst, aber nicht kannst, weil du Angst hast. Und das passiert beim Parkour schon ganz am Anfang. Bereits in den ersten Trainings steht man oft irgendeiner Form von Angst gegenüber – aber nicht weil man auf einem Dach steht und sterben könnte, sondern weil man Angst hat, sich z. B. den Zeh zu stoßen. Es beginnt also auf einer ganz kleinen, ungefährlichen Ebene.


Den Sprung sehen / Der innere Simulator

Da im Parkour die Angst allgegenwärtig ist, musst du dich ihr von Anfang an stellen – und du musst Strategien entwickeln, um sie zu überwinden. Ich kann nicht für alle sprechen, aber in der Regel besiegt man diese Angst nicht mit Willenskraft oder besonderem Mut, sondern dadurch, dass man zu einem inneren Gefühl von Gewissheit kommt: dass man es schaffen kann – und zwar sicher.

Oft hört man Parkour-Athleten sagen, dass sie den Sprung „sehen“ oder fühlen können. Dieses innere Sehen ist ihre Bewegungserfahrung und ihr Bewegungsverständnis, das ihnen in spürbarer Weise sagt: „Ich kann das.“ Dieses „Sehen“ ist das Fühlen des Sprungs, wie er sich anfühlen sollte – auch wenn man ihn noch nie genau so gemacht hat. Es handelt sich also um eine Art innere Simulation.

Wenn eine Parkour-Person den Sprung nicht sehen oder fühlen kann, heißt das, dass der Sprung nicht von der inneren Simulation abgedeckt ist – oder, dass die Person mental nicht im richtigen head-space ist. Und wenn man ihn nicht sehen kann, muss man alle möglichen Maßnahmen ergreifen, um ihn sehen zu können. In jedem Fall braucht es die Gewissheit, dass man sich dazu bringen kann, ihn zu machen – trotz akuter Gefahr.

Oft besteht die Haupt-Herausforderung bei einem mentalen Kampf darin, diesen Punkt zu erreichen – dass man den Sprung sehen oder fühlen kann. Dann ist der Kampf fast schon gewonnen.

Und wenn Parkourathleten den Sprung nicht sofort sehen, unternehmen sie alles Mögliche, um dahin zu kommen: Sie suchen sich z. B. ähnliche Sprünge mit geringeren Konsequenzen, also auf Bodenniveau. Sie messen Distanzen, vergleichen mit anderen Sprüngen, die sie gemacht haben, oder sie machen den Sprung mit einer leichteren Bewegung etc. All das ist Informationssammlung, um zu begreifen, worum es bei dem Sprung geht, um dann sagen zu können: „Ah, okay, ich kann das.“, oder: „Nein, das ist noch nichts für mich.“

Vor einem potenziell gefährlichen Sprung erleben viele Athleten einen sogenanntes mental battle – ein inneres Ringen zwischen Gewissheit und Zweifel.


Das mental game – ein rationaler Prozess

Dieses mental battle ist ein Ringen zwischen der inneren Gewissheit, dass du etwas kannst (basierend auf deiner inneren Simulation), und all den starken Emotionen, Zweifeln, Ängsten und Stimmen, die dir sagen, was alles schiefgehen könnte und dass du es nicht schaffen wirst. Dieses mentale Ringen kann wirklich intensiv sein – manchmal fühlt es sich schrecklich an. Man kann es richtig hassen.

Aber genau das zeigt: Der gesamte mentale Prozess hinter diesen „verrückten Sprüngen“ ist eigentlich ein sehr rationaler Prozess. Denn du versuchst, Emotionen durch deine Berechnungen bzw. dein Bewegungsverständnis zu überstimmen. Das Wort „rational“ bedeutet schließlich wörtlich „berechnend“ – im wortwörtlichsten Sinne ist der Prozess also rational.

Und wenn man Verrücktheit so definiert, dass die eigene Sicht auf die Dinge und die Dinge wie sie tatsächlich sind weit auseinander klaffen – was ich für eine ziemlich passende Definition von Verrücktheit halte – dann erfordert ein „verrückter Sprung“ eigentlich das genaue Gegenteil von Verrücktheit. Und so ist es auch. Ganz egal, wie verrückt du generell bist – wenn du im Parkour verrückt bist, ist deine Karriere als „Sender“ sehr kurz.


„Sender-Mentalität“

Früher war Parkour eher konservativ, wenn es um Risikobereitschaft ging – man wurde fast verurteilt, wenn man sich verletzt hat oder einen Bail (Sturz) hatte. Heute ist es fast umgekehrt: Die „Sender-Mentalität“ ist cool, akzeptiert. Der Draufgänger hat jetzt ein cooles Image. Aber seitdem „Senden“ „gesellschaftlich“ akzeptiert ist, verschwimmt für viele die Grenze zwischen „nur so wirken, als wäre man draufgängerisch“ und tatsächlich draufgängerisch sein. Und es ist dadurch leichter geworden sich zu etwas hinreißen zu lassen, das man (noch) nicht kalkulieren kann.

Ironischerweise werden Menschen, die das tun und dabei scheitern und sich häufig verletzen, in der Szene immer noch als Menschen mit einem starken mentalen Spiel angesehen. Dabei ist es in Wirklichkeit ein schwaches mentales Spiel. Es ist Irrationalität, die sie beherrscht.

Ein gutes mental game ist eine Berechnung, die stimmt, und Verletzungsfreiheit ist der einzige legitime Beweis dafür.

Wenn du zu oft daneben liegst, dann machst du entweder Sprünge, die über deine Fähigkeiten (dein Bewegungsverständnis) hinausgehen, oder du lässt dich aus anderen Gründen verleiten. Oder sag mir: Wenn du Bewegung liebst, warum solltest du deine Bewegungsfähigkeit für einen Sprung riskieren? Das ergibt keinen Sinn.

Es kann nur sein, dass die Leute zu sehr von dem Status locken, den sie durch einen Sprung zu erlangen hoffen, und dann mit Glücksspiel anfangen.


Bedrohung von zwei Seiten

Du siehst: Dein mentales Spiel ist von zwei Seiten bedroht.

Die eine Stimme sagt: „Nein, du kannst es nicht“ – obwohl du es könntest,

die andere Stimme sagt: „Doch, du kannst es“ – obwohl du es nicht kannst.

Beide Seiten liegen falsch. Wenn eine dieser beiden Stimmen das mental battle gewinnt, hast du verloren – das ist ein schlechtes mental game. Denn dann tust du entweder etwas nicht – aus irrationalen Gründen. Oder du tust etwas – ebenfalls aus irrationalen Gründen. Und Letzteres ist natürlich deutlich gefährlicher.

Wenn du mich fragst: Alles im Parkour muss so präzise sein wie ein Stick – kein overshoot, kein undershoot. Und das gilt auch mental. Du kannst auch mental „undershooten“ oder „overshooten“.


Liegen die Kritiker falsch?

Der Trend zur sigenannten „Sender-Mentalität“ hat schlampiges mental game salonfähig gemacht. Und das ist einfach dumm. Das mental game ist einer der geilsten Aspekte im Parkour – eine hohe Kunst! Und es in Verruf zu bringen, ist nicht nur dumm, weil es gefährlich ist, sondern auch, weil es alle Klischees bestätigt, die die angeblich ignorante Öffentlichkeit über Parkour hat. Und dann haben sie auf einmal recht. Peinlich.


Die Schönheit des mental games

Man könnte also sagen: Die Herausforderung im mental game ist, dass deine Vorstellung von einem Sprung und der reale Sprung exakt übereinstimmen. Und genau diese Präzision, diese perfekte Kongruenz, ist die Schönheit des mental games. Und der höchste Grad der Prüfung dieser Präzision ist an einem Ort, an dem es keinen Raum für Fehler gibt. Und es ist schwer, anderen Menschen zu erklären, warum das so zutiefst befriedigend ist. Aber es ist so. Ob das nun ein gerechtfertigter Beweggrund ist oder nicht, musst du selbst entscheiden.


Das war’s. Send responsibly.

 
 
 

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